Ich hatte sie gar nicht kommen sehen, hatte nichts gehört, aber sie saß mit einem Mal vor mir. Hatte ich vergessen die Haustür zu schließen? Warum stieg sie überhaupt bis in den vierten Stock, kam in meine Wohnung, schlich hinaus auf den Balkon um sich geradewegs vor mich hinzusetzen und mich mit ihren großen Katzenaugen mit schmaler Pupille anzusehen als würde sie sagen: „Hier bin ich, jetzt gib mir einen Namen!“?
Eine Zeitlang sahen wir uns unbewegt in die Augen. Manchmal kniff sie ihre Augen zu, was auf kätzisch meint: „Nur die Ruhe, es ist alles in Ordnung“. Ich tat das gleiche um ihr ebenso beruhigend zu antworten. Mit Katzen kenne ich mich aus, bald wird sie ihren Schwanz langsam hin- und her schwingen wie eine Barsängerin ihre Federstola und bald wird sie mir vertrauen und sich schnurrend an mein Bein schmeicheln. Nur kurz zuckte sie mit ihrem Kopf zur Seite, in Richtung Nachbarbalkon, als dort eine Krähe vom Geländer abflog. Gleich sah sie mich aber wieder eindringlich an und meinte: „Du musst mir einen Namen geben!“
Ich dachte nach. Welchen Namen konnte ich einer grau getigerten Hauskatze denn geben? So wie diese Katze hier vor mir saß, mit ihren gelben Augen, ihrer braunen Nase, ihren langen Schnurrhaaren und ihren kuscheligen Vorderpfoten, die sie perfekt nebeneinander vor sich hinstellte, erinnerte sie mich an all die Katzen an Urgroßmutters Bauernhof. Die hießen dort alle Petzi, Schnurrli, Murrli, Minki und Maunzi, aber eine mochte ich besonders, die hieß Sokrates.
Mein Großonkel Hans, einer der Söhne meiner Urgroßmutter , ein einfacher Bauer, wenn man ihn nur oberflächlich kannte, hatte ihr diesen Namen gegeben. Onkel Hans wirkte auf viele wie ein Philosoph und die Nachbarn nannten ihn einen weisen Mann. Dabei redete er von sich aus nie viel mit den Leuten und führte allerhöchstens Selbstgespräche, aber wenn er einmal gefragt wurde, dann kamen seine Gedanken so klar und sicher über seine Lippen, dass es keinen Zweifel gab: der Mann wusste wovon er sprach und er würde auch wissen wie meine Katze heißen sollte.
Als mir sein Bild aus den Tiefen meiner Erinnerung aufstieg, da wusste ich mit einem mal , wie ich diese Katze hier nennen musste und obwohl mir nicht klar war, ob ich ein Männchen oder ein Weibchen vor mir hatte, gab ich ihr den Namen „Hans“.