Beginnt es hier? Ist das der Anfang? Hier in der Castenhola Bar im Hafenviertel von Manaus?
Die Wirtin begrüßt mich mit breitem Lächeln und dem Handschlag der Freunde. Wir umschließen gegenseitig unsere Daumen, während sich unsere Handflächen berühren . „Lange nicht geseh’n, wie geht’s dir?“ scheint sie zu sagen. „Toda bem“ lächle ich ihr zu und halte den gestreckten Daumen in die Luft.
Dröhnendes Schmalzlatino aus den Boxen.
Sie singt fröhlich mit, bringt mir ein Skol, schenkt mir ein fingerlanges Glas ein und stellt die langhalsige Bierflasche in einen Cooler aus Styropor. Hastig leere ich das erste Glas und schenke mir zufrieden nach. Du gehst hier zehn Schritte und deine Unterwäsche saugt sich voll.
Heute, um acht Uhr früh hatte es bereits Einundreissig Grad. Als ich die doppelten lichtundurchlässigen Vorhänge zur Seite riss, traf mich die Strahlenkanone Gottes. Aus Angst in ein Aschehäufchen verwandelt zu werden, drehte ich die Klimaanlage runter auf achtzehn Grad.
Hier also, na gut, ist mir recht. Wo sonst noch? In einem Tschocherl, einem Vorstadtcafé in der Engerthstrasse in Wien könnte es vielleicht schon begonnen haben. Aber hier und jetzt habe ich den Knall gehört. Der Startschuss ist gefallen.
Escritor, ficcionista, Autor, Schriftsteller, „Was schreibst du denn so?“ werde ich gefragt. „Schreibst du Science Fiction?“ Die Antwort fällt mir nicht leicht. Wie soll in in Kürze erklären, wovon meine Geschichten handeln? Von überlagerten Realitäten? Dekonstruktivismus? In tausende DUs explodierende ICHs? Das klingt zu hochgestochen, angeberisch, obwohl es stimmt.
Wie wär’s damit: Seit ich denken kann, bemerke ich, dass die Menschen von Jahr zu Jahr dümmer werden. In den letzten Jahren habe ich eine schlüssige Theorie darüber entwickelt. Diese Theorie möchte ich in Geschichten verpacken und sehen, ob sie sich verkaufen lassen. Auf diese Weise, so hoffe ich, werde ich Kontakt zu Gleichgesinnten erhalten, die ein ähnliches Phänomen beobachtet haben und meine Botschaft verstehen.
Science Fiction? Ja, warum eigentlich nicht? Der Zukunftsroman als dekonstruierte Realität der Gegenwart. Aber eigentlich schreibe ich nur über mich selbst. Oder über Einzelteile von mir, die vorübergehend durch sämtliche Gehirnlappen zucken. Die Erklärungen erreichen Romanlänge. Der Roman ist die Erklärung.
„Erzähle bloss nichts über deine Träume“, hatte mir eine alte Frau auf der Mariahilferstrasse zugeflüstert, als mein Euro scheppernd in die Blechbüchse fiel. „Die haben mich deshalb ins Narrenhaus gebracht“ Eh nicht, ich erzähle niemandem meine Träume, ich schreibe sie auf, das ist unauffälliger. Da kannst du über das Ende der Welt schreiben und es kümmert niemanden. „Gut geschrieben, eingenartiger Stil, flotte Feder“, sowas sagen sie vielleicht, oder auch „Zu weit her geholt, Inkonsistent, unverkäuflich“. Niemand würde das Ende der Welt bemerken, selbst wenn es bereits die dritte Wiederholung gäbe.
Eine mutwillig blonde Frau, deren Körper nicht mit Raum geizt und dennoch seine weibliche Form bewahrt zwängt sich durch die gelben Plastikmöbel. An einer Stange aufgereiht, bunte Unterhosen, die sie verkauft. Sofort will ich zugreifen, aber es sind nur Damenslips. Meine Grösse fehlt. Währenddessen nährt sich mein eigener Slip vom Rückenwasser. Die Hitze zwingt auch manche Damen zur Offenheit bis zum Nabel.
Salsatrompeten lähmen meine Schreibhand und meine Gedanken. Ich tauche hinab in die Sehnsucht, die Sucht mich nach Glück zu sehnen. Wenn ich nach oben blicke erkenne ich Licht wie durch einen Brunnenrand begrenzt. Nach unten scheint es endlos in die Dunkelheit zu gehen. Die Sehnsucht endet nie. Salsatrompeten.
Weiter die Straße hinunter zum Rio Negro liegt der Markt. Sonnengegerbte, gebeugte Männer schleppen Reissäcke, Fische oder gelbe Plastikmöbel die Straße herauf. Die erblondete Frau spricht mich an, schnelles brasilheiro, muito rapido. Ich verstehe nicht einmal Bahnhof. Sie schnappt sich einen der Gartensessel und setzt sich sehr knapp neben mich. Reizwäsche will sie mir verkaufen und wahrscheinlich mehr. Wo ich her bin? Was ich hier mache? Fragt sie und lässt meinen Haarschwanz durch ihr Finger gleiten. „Escritor? Australia? Kanguru?“, „Austria, Red Bull“ korrigiere ich. „Gorede“ schreibt sie auf den Deckel meines Notizbuchs, Goschesche heißt sie, sagt sie. Von einem Straßenverkäufer nimmt sie ein halbes Dutzend kleine gekochte Vogeleier und schiebt sie mir nach und nach in den Mund. Ich sehe wie die Wirtin im Hintergrund schmutzig lacht , eine Faust macht und eindeutig den Arm abwinkelt. Ich lade auf eine Flasche Cola ein. Gibt’s hier nicht, nur Bier. Ob ich wohl die Bar wechseln möchte? Ihre Amigas sind da weiter unten in einer viel hübscheren Bar. Nein, ich bleibe, bin verheiratet, erzähle von meiner Esposa, die auf mich in Porto Velho wartet.
Die singende Wirtin schwebt herbei und und lässt ihr Haar frei. Es fällt ihr bis zur Hüfte. Kann einem heißer sein als heiß? Bei jedem „Amor“ im Text des Liedes deutet sie mit beiden Fingern auf mich. Rasch tauscht sie meine fast leere Flasche Bier durch eine neue aus. Zu spät für Gegenwehr.
Gorede zeigt mir ein Höschen in der Grösse eines Haargummis. Nein, nicht zu verkaufen, es gehört ihr. Sie will damit ihren Esposo in die Glut greifen lassen. Da geht sie nun, mit einem tröstenden Winken, sie komme ja bald wieder. Ich mache mir ein paar Notizen. Die Wirtin will wissen, was ich so eifrig aufschreibe. „La Libro?“ Si, Si, nicke ich erfreut über die Anteilnahme. Ja, vielleicht wird ein Buch daraus. „Die tägliche Reise des Irgendwers durchs Irgendwo.“ Aha nickt sie zurück und verschwindet hinter Stapeln von Bierkisten.
Als die Frauen fort waren, stürzen sich die Männer auf mich. Ein kleinerer, etwa fünfzigjähriger Hombre, mit rot entzündeten Augen, einem ledernen Ranchero-Hut auf dem Kopf, dessen breite Krempen seitlich nach oben zeigen und den er unter keinen Umständen absetzen wird, nimmt mich ins Visier. Offensichtlich hat er mein nickendes Grüßen als Aufforderung verstanden. Nun eilt er herbei und setzt sich mir gegenüber an den Tisch.
„Permiso?“ fragt er entschuldigend und schnappt sich mein Notizbuch. Er schlägt es auf und liest angestrengt. Dann greift er zum Kugelschreiber und beginnt sofort auf einer neuen Seite etwas zu schreiben. Mit seiner freien Hand verdeckt er das Blatt. Niemand darf sehen, welche Notiz er mir hinterläßt. Ganz kurz habe ich einen Blick auf die Zeilen. Es sieht aus, wie Tritte eines Papageis im Vogelsand.
Ein alter Herr, weit über die Siebzig, mit dürftigem Haupthaar, krausem Vollbart und nur mehr zwei Eckzähnen im Unterkiefer, lässt sich am Nebentisch nieder, grinst mir zu und spricht mich an. Ich verstehe nichts, aber es sieht ohnehin nicht so aus, als würde er eine Antwort erwarten. Ich bestelle zwei weitere Gläser bei der Wirtin, schenke ein und stelle den Beiden die kühlen Biere hin. Der Alte spuckt auf den Boden, schüttelt den Kopf und deutet mit bebenden Händen zum Himmel. Der Ranchero greift zum Glas und Prostet jemanden auf der Strasse zu.
Aus einer hinteren Ecke des Lokals fuchtelt mir die Wirtin mit den Armen zu. „Achtung, schwule Idioten!“. Ich hebe kurz meine Schultern. Nun hat mich auch noch ein weiterer Barbesucher entdeckt. Ein schlaksiger Mann, mitte Dreissig, hellhäutiger als die beiden Anderen, gefettete schwarze Haare, glatt rasiert mit starkem Mundgeruch, kniet sich vor mich hin ergreift meine Arme und küsst mir die Hände. Sein Herz tut so weh, seine Frau hat ihn verlassen, weint er bitterlich. Seine Tränen fallen in meine offene Hand. Der Kummer schüttelt seinen ganzen Körper. Ich krame zwei Raeis aus meiner Hosentasche und löse mich aus seiner Umschlingung. Verächtlich steckt er den Schein in die Brusttasche seines fleckigen Hemdes und deutet mir, es ginge ihm nicht ums Geld. Aber ich sei ein guter Mensch. Er steht auf und küsst mich auf Stirn und Wangen. Als er mich noch weiter küssen will, dränge ich ihn sanft von meiner Seite. Erst nach einigen weiteren Versuchen hat meine Geste erfolg. Er schultert seinen Rucksack und winkt mir zum Abschied. „Tschau“ Ich rufe noch „Buen Suerte, viel Glück“, mir fällt ein, dass hier kaum jemand mein schlechtes spanisch versteht.
Der Alte stemmt sich aus seinem Sessel und schlurft ihm hinterdrein. Auch der Ranchero trinkt sein Glas leer, legt die Schreibsachen auf meine Tischseite und geht der glühenden Sonne entgegen. „Bonoitsch“ klingt es für mich, „Gute Nacht“ heisst es wohl.
Alle Drei sind plötzlich weg.
Haben Papageienspuren hinterlassen.
…